Bescheidenheit ist (k)eine Tugend

Oder vielleicht doch? Es gibt viele solcher Aussagen, die sich im Laufe eines Lebens im Gedächtnis eingenistet haben. Doch was machen die da genau? Bleiben sie unbeaufsichtigt, können sie ungute Folgeerscheinungen auslösen. Findet man sie, ist es heilsam, genauer hinzuschauen.

  • Was du nicht willst, dass man dir tu, das füge auch keinem anderen zu.
  • Bescheidenheit ist eine Tugend.
  • Sei schön artig.
  • Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.

Das sind Sprüche und Aussagen, die mir in meiner Kindheit und Jugendzeit oft begegnet sind. Schaue ich mir diese Äußerungen genauer an, wird mir klar, dass ich einige dieser Sätze sehr bewusst registrieren kann, während ich die anderen kaum bemerke.

Erkenntnisse

Meine Spannung wächst, während ich darüber nachdenke, weshalb diese Unterscheidung existiert. Ich würde behaupten, dass ich alle Dinge gleich oft gehört habe, also warum sind einige offensichtlich und andere eher unsichtbar?

Die Sprüche, die ich sofort auf dem Schirm habe, sind die, mit denen ich mich in den letzten Jahren beschäftigt habe und die ich als klassische Konditionierung erkennen durfte. Damals habe ich diese Sätze hinterfragt: Sind sie noch wichtig für mein Leben oder kann ich mich davon trennen? In den meisten Fällen folgte die Trennung. Ich wollte diese – in der Kindheit aufgenommenen – Sätze nicht mehr haben, sie waren überholt und passten nicht mehr zu meinem aktuellen Leben.

Die Sprüche unter dem Radar

Eine Freundin hat mich auf den Satz „Bescheidenheit ist eine Tugend!” aufmerksam gemacht. Also hinterfragte ich und musste feststellen: Den Satz kenne ich. Ich habe ihn häufig gehört und angesagt bekommen. Doch scheinbar ist er die letzten Jahrzehnte unter meinem Radar geflogen. Ich habe ihn zwar nicht bemerkt, aber trotzdem ist er in meinem Kopf sicher verankert. Dieser Spruch läuft unbemerkt in einer Dauerschleife durch meine Gedanken, wie ein Hintergrundprogramm auf dem Computer.

Jetzt ist er auf dem Radarschirm aufgetaucht und ich denke: Will ich den noch haben?

Die Aussage ist, dass ich einen positiven Eindruck hinterlasse, also akzeptiert werde, wenn ich bescheiden bin. Ok. Es ist nicht schlimm, Akzeptanz zu erfahren, denke ich.

Hintergrundrecherche

In Wikipedia steht zu der Bedeutung von Tugend sinngemäß, dass es von taugen abgeleitet ist und sich im Ursprung auf die Tüchtigkeit einer Person bezieht. Es wird allgemein mit vorbildlicher Haltung und hervorragender Eigenschaft verbunden. Auch gut. Gute Haltung und positive Eigenschaft – es gibt Schlimmeres.

Doch wenn ich mir das Gegenteil von bescheiden anschaue, finde ich u.a. Worte wie anspruchsvoll, gierig, unverschämt, überheblich und verschwenden. Ich frage mich, ob ich lieber bescheiden oder das Gegenteil sein möchte: anspruchsvoll – ja; gierig – nein; unverschämt – ja (Das Wort Scham in unverschämt entsteht meistens nicht aus dem eigenen Gefühl, mehr dazu im Blogbeitrag 05/2018 Schämen und Fremdschämen.) Ja – weil ich mich definitiv nicht schämen möchte, wenn ich mein Recht einfordere; überheblich – nein; verschwenden – nein, jedoch mir etwas gönnen – sehr gern.

Mir fällt auf, wie dicht die Begriffe aneinander liegen und je nachdem mit welcher Situation ich das verbinde, bekommt jedes der genannten Worte einen sinnigen oder auch bescheuerten Ansatz. Nicht so einfach, das mit der Bescheidenheit.

Perspektivwechsel

Also, neuer Blickwinkel: Worauf bezog sich die Bescheidenheit in der Kindheit? Auf gierig sein? Ich rufe mir die Erinnerungen ins Gedächtnis. Ja – dicht dran. Gier. Was ist mit Neu-Gier? Bestimmt keine wünschenswerte Eigenschaft – zumindest aus Elternsicht kurz vor Weihnachten.

Irgendwie trete ich auf der Stelle. Meine Neu-Gier möchte ich gern behalten, das bringt Spannung, Spaß und Bewegung ins Leben. Gierig sein – im Sinne von nichts abgeben wollen – das brauche ich nicht.

Anspruchsvoll – ja, das bin ich. Meinen eigenen Ansprüchen genügen und eine gute Arbeit abliefern, das finde ich super. Mein Perfektionismus setzt noch einen drauf und lauert schon im Hintergrund auf seinen Einsatz. Den Ansprüchen von anderen Menschen möchte ich nicht genügen. Ich will mich nicht herumschubsen lassen oder mich der ständigen Verurteilung anderer Menschen aussetzen.

Noch mehr Details

Doch was steckt jetzt hinter der Bescheidenheit? Bescheiden ist lt. Wikipedia sich zurücknehmen, sich begnügen, verzichten. Warum soll ich verzichten? Auf Spaß, weil ich bescheiden, leise und unauffällig bin? Nein, das möchte ich nicht. Verzichten auf meine weitere Entwicklung, weil ich bescheiden, still und zurückgezogen bin? Nein, auch das möchte ich nicht. Soll ich mich mit Unauffälligkeit begnügen, wo ich in meinem Umfeld vielleicht einen wichtigen Beitrag leisten könnte?

Nein. Ich zeige mich und gehe mutig nach vorn. Ich versuche laut und sichtbar zu sein, in einer Art und Weise, die meinen Ansprüchen gerecht wird. Nicht jedem muss gefallen, was ich tue. Ich lege Wert auf mein Leben, meine Freunde, viel Fröhlichkeit und neue Dinge lernen.

Das Ergebnis

Der Spruch ist damit in Summe hinterfragt – und für schlecht befunden worden.

Ich lösche ihn aus meinem Autostart-Programm und werfe ihn von meiner Festplatte. Ich installiere einen neuen Satz: Mit Mut und Freude gehe ich voran. – Oder so was in der Art. Wenn das in der Dauerschleife läuft, habe ich wenigstens Spaß statt Bescheidenheit und lebe etwas auffälliger.

Wenn es gut läuft, bereichere ich damit den Alltag anderer Menschen und das wiederum empfinde ich als einen sehr schönen Gedanken.

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Blogbeitrag: April 2019 / Bildnachweise: https://pixabay.com/

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