Schämen und Fremdschämen

Ein genauer Blick auf Ursache für den roten Kopf! 

Frisch und frei, das kennen wir alle. Doch wie oft fühlen wir uns so? Es gibt Bereiche in uns, über die wir wenig sprechen. Es sind die hintersten (Gefühls-)Winkel, in die wir ungern leuchten und die wir möglichst schnell ignorieren, nachdem es dort für einen kurzen Moment hell wurde.

Was tun wir nicht alles: Wir wollen im Boden versinken, eine Papiertüte über den Kopf ziehen oder straußenartig den Kopf in den Sand stecken. Frei nach dem Motto: Wenn ich es nicht sehen, dann ist es nicht peinlich.

Wie kleine Kinder beim Verstecken. Der Kopf ist verschwunden und ein Körperteil schaut irgendwo noch hervor. Prompt wird das Kind entdeckt und ist als Nächster dran.  

Ein kleiner Ton mit großer Wirkung

Mit dem Schamgefühl ist es nicht anders. Ein kleiner Pups, der laut genug ist, um die Herkunft zu bestimmen, treibt uns automatisch die Schamesröte ins Gesicht. Spätestens wenn wir mit dem knallroten Kopf dastehen, hat auch der Letzte in unserer Umgebung kapiert, wo der Verursacher zu finden ist. Blöd gelaufen. Sofort ist der Wunsch, direkt im Boden zu versinken, von großer Intensität geprägt. Doch es hilft nichts. Alle haben es registriert und zeigen gefühlt mit dem Finger auf uns und lachen. Oh, ist das mies.

Doch warum ist es das? Haben wir beim Verstecken verloren und müssen zählen? Ein Pups ist ein völlig normaler Vorgang im Verdauungstrakt. Beim Reden schlucken wir Luft, manche Lebensmittel lösen weitere Gasbildung aus, die ganz normal vom Köper ausgeschieden werden. Laut Doc Esser passiert das ca. 24-mal pro Tag – bei jedem Menschen. Link zur Sendung "Das Gesundheitsmagazin: Gesunder Darm"

Wofür sollen wir uns schämen? Es schämt sich auch keiner fürs Atmen, wenn er eine Knoblauchfahne oder sonstig gearteten Mundgeruch hat.  

Die lange Tradition

Das Gefühl von Scham hat eine lange Tradition. Wohl jedes Kind kennt die Rüge: „Schäm dich, das macht man nicht!“ oder „Ist das peinlich, das kannst du doch nicht zur Oma sagen!“

Weil Kinder die Wahrheit aussprechen, schämen sich die Eltern und fangen an zu tadeln.

Eine Freundin erzählte mir, was ihr Kind zu dem sehr netten, alten Nachbarn gesagt hat: „Ich habe gerade auf dem Friedhof ein sehr schönes Plätzchen für Dich gefunden!“ Sie erwog kurz die Möglichkeit unsichtbar zu werden, bevor sie bemerkte, dass ihr Kind es genau SO meinte.

Ihm war es wichtig, dass der nette Nachbar auch nach seinem Tod an einem wunderschönen Platz ist. Es meinte es absolut liebevoll, im besten Einklang mit dem Nachbarn.

Meine Freundin ließ die Aussage so stehen, doch oft genug glauben Erwachsene, dass sie dafür verantwortlich sind, was ihre Kinder sagen. Es kann kein Rückschluss auf die Erziehung getroffen werden, denn Kinder probieren aus und lernen nach und nach die gesellschaftlichen Umgangsformen.

Soll das Ziel der Erziehung erreicht werden, aus dem Kind einen eigenständigen Menschen zu machen, heißt es „Aufgepasst!“. Mit einem Tadel an dieser Stelle, lernt Ihr Kind, Dinge nicht zu sagen. (Ja ich weiß, es gibt auch Fälle, wo eine Rüge angebracht ist, aber um diese geht es heute nicht.)  

Fremdschämen hat mehr als eine (Aus-)Wirkung

Fragen Sie sich kurz, warum Sie Ihr Kind zurechtweisen wollten? Vielleicht weil Sie sich fremdschämen – für ihr Kind, das gerade lernt? Da ist es wieder: das Schamgefühl. Boden, komm über mich, das ist jetzt nicht wirklich passiert, …

Dass Sie sich in einer solchen Situation unwohl fühlen, bemerken Kinder selbstverständlich. Folglich verändern sie ihre Verhaltensweisen, damit sich die Eltern besser fühlen. Die Folge: Den Kindern wird antrainiert, wichtige Dinge nicht zu sagen, um den vermeintlichen Wohlfühlfaktor zu erhalten.

 

Wahrheit ist nicht gleich Wahrheit

Unsere Gesellschaft unterliegt dem Irrglauben, dass der vermeintliche Wohlfühlfaktor durch ein Nicht-Aussprechen der Wahrheit erreichbar ist. Doch dabei handelt es sich um eine Verallgemeinerung. Uns Menschen helfen die als „Wahrheit“ deklarierten, einfach „rausgehauenen“ Schuldzuweisungen und Verunglimpfungen eines anderen Menschen in keiner Weise. Mit „Wahrheit“ meine ich das eigene Gefühl und die eigene Denkweise zu einem Thema. Denn wieviel Positives verliert die Welt, wenn die Aussage „Ich mag dich sehr, darum habe ich einen schönen Platz für dich auf dem Friedhof gesucht!“ nicht ausgesprochen wird?

Ja – hier kommt der Tod ins Spiel, eines der Tabuthemen. Doch vermutlich weiß der Nachbar schon, dass seine Lebenserwartung nicht unbedingt jenseits der 20 Jahre liegt. Und zum anderen: Für Kinder sind 40-Jährige auch schon uralt ;-).

Aber ich schweife ab.

Was passiert in uns? Wir sind in dem Glauben aufgewachsen, dass Dinge, die andere tun, auf uns zurückfallen, uns in ein schlechtes Licht rücken oder uns angelastet werden. Ist das die Realität? 

Noch ein Beispiel:

In diesem Beispiel geht es um den Kauf eines neuen Autos.

Mein Auto ist alt und ständig stehen neue Reparaturen an. Ich fühle mich unwohl, weil es jederzeit erneut ausfallen könnte und mir graut schon jetzt vor der nächsten Reparaturrechnung. Ich schaue aktiv nach einem neuen Auto, durchforste die verschiedenen Plattformen, suche bei Händlern und so weiter.

Ich habe Glück und finde einen Wagen, der die für mich optimale Ausstattung hat. Er ist noch ziemlich neu, hat eine Werksgarantie, soll aber auch viel Geld kosten. Ich bin hin- und hergerissen: Was soll ich tun? So viel Geld ausgeben oder über eine Finanzierung nachdenken? Das Auto in Zahlung geben oder es privat verkaufen? Darauf hoffen, dass mit der nächsten Reparatur alles erledigt ist und ich es ohne weitere Ausfälle noch 2 Jahre (bis zum vermutlichen bitteren Ende) gut fahren kann?

Sie sind mit der Clique (Bekannte, Freunde und Kumpels) unterwegs. Ein lustiger Abend mit etwas Alkohol – und irgendwann passiert es: Sie bekommen einen roten Kopf und wollen im Boden versinken!

Warum?

Weil Sie sich verantwortlich fühlen, für das, was einer der Bekannten gesagt oder getan hat. Wirklich? Ok, des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Schauen wir genauer hin.

Der Verursacher der Peinlichkeit: ein erwachsener Mensch!

Sein Zustand: freiwillig alkoholisiert, über den Abend (hart) erarbeitet!

Er ist erwachsen!!!!! Sie sind nicht verantwortlich für diese Person, weder für sein Tun noch für seine Aussagen.

Das Fremdschäm-Gefühl entsteht, weil Sie glauben, dass Sie ihn davon hätten abhalten müssen. Mal ehrlich, wieviel Macht haben Sie? Können Sie Gedanken kontrollieren und haben es nicht verhindert? Also – zurück in die Realität.  

Was können Sie tun?

Denken Sie zurück, an Situationen, in denen das Gefühl von Scham und Fremdschämen aufgetaucht ist. Versuchen Sie, sich an Ihre erste Erfahrung zu erinnern. Wer hat ihnen gesagt, dass Sie sich so fühlen sollen? Vermutlich ein Mensch, der Ihnen wichtig war.

Gehen Sie bewusst in das Gefühl von damals. Sie hatten etwas falsch gemacht und fühlen sich elend. Versuchen Sie nun herauszufinden, warum das Schamgefühl in Ihnen entstanden ist.

  • Haben Sie wirklich etwas falsch gemacht oder haben Sie „nur“ die Wahrheit ausgesprochen?
  • Haben Sie gefühlt, dass sich der für Sie wichtige Mensch sehr unwohl fühlt?
  • Ist es eine Kombination aus beidem?

Versuchen Sie, die Situation auseinanderzunehmen, um die Konditionierung „Fremdschämen“ und „Scham“ auflösen zu können.  

Sorgen Sie für Ihre Klarheit

Machen Sie sich bewusst, dass Sie nicht dafür verantwortlich sind, was andere tun. Machen Sie sich klar, dass Sie nur für die Dinge, die Sie tun und sagen, voll verantwortlich sind.

Wenn Sie, wie in unserem Beispiel, als Kind dem netten alten Nachbarn gesagt haben, dass Sie ein schönes Plätzchen gefunden haben, sind Sie voll verantwortlich für die Aussage: Ich mag dich! Lösen Sie sich mit diesem Wissen von dem schlechten Gefühl, dass Sie aus Ihrer damaligen Lage mitgenommen haben. Prüfen Sie, ob Sie die Aussage immer noch so unterschreiben würden.

Lösen Sie sich davon, wenn Sie feststellen, dass Ihr Schamgefühl nur daraus resultierte, dass Sie nur das Fremdschämen des Erwachsenen „übernommen“ haben. Dieser Mensch wusste es damals nicht besser und sah keine andere Möglichkeit, als Sie zu tadeln.

Die Auswirkung

Damit haben Sie die Erklärung für die aktuelle Situation, für den Umgang mit Ihrem Kumpel.

  • Er ist verantwortlich, nicht Sie.
  • Er würde sich dafür vielleicht schämen, wenn er es noch wüsste – vielleicht auch nicht.

Letztendlich ist es nicht Ihre Tat, also lassen Sie Ihr Gefühl außen vor. Nutzen Sie die Möglichkeit, Ihre Konditionierung zu lösen, damit Sie die Verantwortung nicht mehr für alle anderen übernehmen, die das gut und gerne selber können.

In der Erziehung: Schauen Sie, was wirklich dahintersteckt, wenn Ihre Kinder Sie ins Fremdschämen bringen.

Ich hoffe, dass ich Ihnen nahebringen konnte, dass die Gründe fürs Schämen und Fremdschämen weitestgehend über Bord geworfen werden dürfen. Ganz in diesem Sinne – wünsche ich Ihnen eine erfolgreiche Zeit und hin und wieder ein charmantes Erröten!

Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Sehen Sie das ähnlich oder ganz anders? Ich freue mich über Ihre Kommentare zu diesem Thema.

 

Blogbeitrag: Mai 2018 / Bildnachweise: https://pixabay.com/  

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